Frank Apunkt Schneider/monochrom

Wie ich einmal über die New Economy schreiben durfte

New Economy und Neoliberalismus sind gängige Schlagworte, die eigentlich vergleichsweise unspezifisch einen bestimmten Typus von Veränderungen im Arbeitsleben meinen sollen. Und als Schlagworte von der Last befreien, diese zu analysieren. Auch dieser Text kann sie nicht in sinnvoller Weise besprechen, da er sich der krypto-neoliberalen Forderung "Wichtig: Ist mir die Lesbarkeit/Flockigkeit: Was auch eine zu akademische Sprache ausschließt" (Zitat Anfragemail) zu stellen hat. Bleiben wir also im gewünschten Vagen, u.a. meint "New Economy" im Folgenden das, was eben allgemein darunter verstanden wird oder auch nicht, sei's drum:

Die grundsätzliche Veränderung, die in solchen Begriffenzu benennen versucht wird, ist diejenige des gesellschaftlichen Arbeitsbegriffes.

In den New Economy-Beschäftigungsverhältnissen wird Arbeit einer Neudefinition unterzogen. Der klassische Arbeitsbegriff, also das, was wir heute noch darunter verstehen, stammt aus dem klassischen Kapitalismus, der sich im deutschsprachigen Raum mit einer gewissen Verzögerung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts voll durchgesetzt hatte. Nennen wir ihn den Produktions- und Güterkapitalismus, also einen, der gesellschaftlichen Reichtum vornehmlich durch die Produktion und den Verkauf ganz handfester Produkte erzeugt.

Der/die klassische ArbeiterIn entsteht in der frühkapitalistischen Fabrik, und seine/ihre Arbeitsweise ist von dieser Fabrik bestimmt, sowohl von deren Produktionsabläufen und Strukturen als auch von ihren Interessen. In dieser Fabrik verkauft der/die ArbeiterIn ihre/seine Arbeitskraft. Weil er/sie das tut, tritt er ganz offensichtlich dem/der FabrikbesitzerIn als deren KäuferIn gegenüber, zumal dieseR ja die Arbeitskraft billiger einkaufen muss, als er sie in Form von den Produkten, in die die Arbeitskraft eingeht ist, weiterverkauft.

Dieses Verhältnis konnte immer auch als Gegensatz, bei Marx: als "Antagonismus", verstanden werden und wurde genau so auch aufgefasst: als der Gegensatz von ArbeiterIn und KapitalistIn! Er war für jeden Arbeiter und jede Arbeiterin eine (Erfahrungs-)Tatsache, egal, was sie sonst von Fabriken, KapitalistInnen und vom Kapitalismus überhaupt halten mochten. Kurz, die ArbeiterInnen definierten und verstanden sich selbst über diesen Unterschied. Die gesamte so genannte ArbeiterInnenkultur beruht auf dem Unterschied zur Kultur der Besitzenden, verklärt und verfestigt diesen Unterschied.

Der Trick der New Economy besteht nun darin, dass die in ihr tätigen ArbeiterInnen plötzlich selbst UnternehmerInnen sein sollen. Was nicht heißt, dass sie das auch wären, da sie ja weiterhin von der Entscheidungsfindungsebene "ihres" Unternehmens zum größten Teil ausgeschlossen bleiben, abgesehen vielleicht von einigen wenigen, aber leicht durchschaubaren mitarbeitermotivationalen Mitentscheidungs-Ritualen.

Statt mitzubestimmen, sind sie jedoch dazu angehalten, mitzugestalten, was ja schön vage ist und immer noch rechtzeitig zurückgenommen werden kann, falls es in seiner konkreten Ausgestaltung dem/der ChefIn dann doch nicht so zusagt.

Sie sollen weiterhin Teil des Betriebssystems in einem weit ausgreifenderen Sinne sein, als dies die klassischen ArbeiterInnen je gewesen waren. Was heißt: Der/die postmoderne UnternehmerIn lagert Aspekte seiner Tätigkeit auf die postmodernen Unternehmer-ArbeiterInnen um bzw. aus.

Neben dem Bereich der Verantwortung ("Eigenverantwortung") gehört hierzu auch die Kontrollfunktion ("Selbständigkeit"). War es früher noch Aufgabe des Chefs/der Chefin und seines/ihres Apparates gewesen, die ArbeiterInnen in ihrer Tätigkeit zu überwachen und sie im allgemeinen Bewusstsein dieser Überwachung dazu zu anzuhalten, effektiv, gut, sinnvoll, kurz: im Sinn des Chefs und seiner Interessen zu arbeiten, so tun sie dies nun gleichsam von selbst.

Jenseits der Flockigkeit wurde dieser Umbruch mal als der " Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft" bezeichnet. Was aber heißt das?

Die Institutionen der Disziplinargesellschaft stützten sich im wesentlich auf zwei Mittel, um die ihr Unterworfenen gefügig zu halten: Überwachen und Strafen. Beide sind recht effektiv, sie erzeugen aber zumindest einen inneren Widerstand, und zugleich enthalten sie die Möglichkeit, ihnen zu entgehen. Wo überwacht wird, da kann etwas der Überwachung - flockig gesprochen - durch die Lappen gehen, sie austricksen, ihr auf der Nase herumtanzen, also ihrer Mechanismen sich bewusst werden und sie dadurch unterlaufen. Wo überwacht wird, entstehen Nischen. Entsprechend hatten die ArbeiterInnen im klassischen disziplinargesellschaftlichen Betrieb meist eine gut entwickelte Technik, Überwachungslücken ausfindig zu machen und zu nutzen und sich generell der Überwachung zu entziehen. Ja, sie kultivierten mithin ganz sinnlose, aber Genugtuung verschaffende Subversionsrituale (lange Toilettenaufenthalte, Arbeitsmaterial entwenden oder verschwenden, absichtsvolle Fehlbenutzung von Hard- und Software, Krankfeiern, Beschäftigt-Aussehen, Sich-Dumm-Stellen, übergenaues Befolgen von Anweisungen auch wider besseres Wissen bis hin zu tatsächlich geschäftsschädigenden Aktionen wie das Beschädigen oder Verschwinden-Lassen von arbeitswichtigen Dingen etc.)

Kurz, die Disziplinargesellschaft war zugleich eine, die Renitenz erzeugte, weil sie Hierarchien und den Interessensunterschied zwischen der herrschenden und der beherrschten Klasse offen zu tage treten ließ. Bedeutsam sind die am Betrieb erläuterten Widerstandsformen aber nicht nur als individuelle Akte des Aufbegehrens, die individuelle Befriedigung verschaffen. Sie stiften darüber hinaus auch das Modell für praktischen und theoretischen Widerstand.

Ein Beispiel für ersteres wäre die Wortgeschichte von "Sabotage", das bekanntlich auf die Holzpantinen (frz. Sabot) zurückgeht, mit denen aufsässige französische FabrikarbeiterInnen Produktionsstraßen blockiert hatten.

Ein Beispiel für letzteres wäre die Geschichte der Linken überhaupt, die auf die theoretische Aufarbeitung des Konfliktes von ArbeiterInnen und UnternehmerInnen durch Marx, einen bürgerlich-akademischen Intellektuellen, zurückzuführen ist.

Die Kontrollgesellschaft hat nun diese Kontrollfunktion ins Innere der Subjekte verlegt. Wenn aber diese die Kontrolle gleichsam internalisiert, also zum Bestandteil ihres psychischen Apparates und ihres Denkens gemacht haben, dann wird die Kontrolle absolut. Es lässt sich ihr nichts mehr entgegensetzen und es gibt kein Außerhalb der Kontrolle mehr.

Dieser geschichtliche Umbruch hat aber nicht nur mit der Veränderung von Arbeitsverhältnissen zu tun, sondern setzt viel früher ein, etwa mit der Erfindung des Gewissens im Protestantismus gegenüber der Himmel-Hölle-Theologie des mittelalterlichen Katholizismus. Mit der Moral der bürgerlichen Gesellschaft (Kants kategorischer Imperativ). Mit der Erfindung der Vernunft in der Aufklärung. Mit der modernen Psychologie etc. Das beste Beispiel hierfür ist mein altes Religionsbuch der 70er Jahre, dessen UrheberInnen statt Sexualität zu unterdrücken, was jahrhundertealte katechetische Praxis war, in den 70er Jahren aber nicht mehr so ganz praktikabel schien, einen verantwortlichen Umgang mit dieser empfahlen. Ein scheiß-perfider Trick, um die alte Unterdrückungsform in eine neue hinein zu retten.

Die Arbeitsverhältnisse selbst reagieren eher relativ spät auf diesen Wandel. Die Umerfindung des klassischen Betriebs zum neoliberalen Unternehmen ist jedoch eine Form davon. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die Freiwilligkeit und die innere Bereitschaft, die in den dort vorherrschenden Arbeitsmodellen propagiert werden, nichts anderes darstellen, als die Verpersönlichung der Kotrolle. Kontrolle wird persönliche Aufgabe und sie wird zur zweiten Persönlichkeit.

Dies funktioniert auch über die Auflösung klarer und eindeutiger Begrenzungsverhältnisse, wie sie das Oben-Unten-Gefälle im Betrieb hervorgebracht hatte. Aufgelöst werden von daher klar abgegrenzte Arbeitszeitstrukturen. Die postmoderne Arbeit ist immer. Das war sie zwar auch schon zuvor (denn Freizeit war ja als Reproduktionszeit Teil der Arbeitszeit, indem sie diese durch die Abwesenheit von formaler Arbeit regenerierte), aber es gab dennoch eine fühlbare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit. Pop war als ehedem subversive Praxis ein Widerschein davon.

Zur Entgrenzung der Arbeitsverhältnisse gehört, dass das Unternehmen sich enthierachisiert gibt. Seine Lieblingsvorstellung von sich selbst ist: das Boot, in dass man/frau z.B. jemand hereinholen kann, wie es eine beliebte Redewendung ausdrückt. Alle, die sich in einem solchen Boot (nicht Schiff, das ja wieder ein Betrieb wäre!) befinden, haben ein gemeinsames Interesse: den ökonomischen und sozialen Wellengang zu meistern, und eben nicht darin abzusaufen. Es besteht hier durchaus ein ideengeschichtlicher Zusammenhang zum "Das-Boot-ist-voll!" der Migrationsdebatten.

Im Boot-Unternehmen erscheinen alle inneren Grenzen aufgelöst, die einzige noch existierende ist die nach draußen, zur feindlichen Welt und zur Krise, die in der Metaphysik des Neoliberalismus die Funktion der Hölle in der Theokratie des Mittelalters erfüllt: Die Bereitstellung eines permanenten Bedrohungshorizont außerhalb des menschlichen Einflussbereichs. Die innere Entgrenzung braucht die Bedrohung durch dieses Draußen, in dem blindwütig die freigesetzten Kräfte des Kapitalismus um sich schlagen. Wer nicht mitspielt, also effizient ist, wird schnell ins Draußen entsorgt, wo die immer stärker prekarisierten gesellschaftlichen Randlagen lauern, der Abstieg in Armut, Schande, Bedeutungslosigkeit und Nachmittags-Talk-Show-Zielgruppe-Sein. Deren Ohnmacht steht der Macht des/der Unternehmer-ArbeiterIn gegenüber im Sinne einer vorgeblendeten Wahlmöglichkeit: "Öha, wir haben ja die Wahl!"“

Die Lüge der Entgrenzung zeigt sich darin, dass sie eigentlich durch die totale Grenzziehung aller gegen aller erkauft wird. Hatten ArbeiterInnen des Betriebsmodells noch zumindest potentiell ein gemeinsames Interesse, und darin eine Nicht-Grenze zueinander, so fällt jedeR, wo er/sie ja selbst zur UnternehmerIn der eigenen Arbeitskraft erklärt wird, in die Vereinzelung zurück. Die von Unternehmensseite eingeklagte Solidarität mit dem Betrieb wird erkauft durch die Entsolidarisierung, nicht nur innerhalb einer Belegschaft (die nicht mehr solidarisch dem/der UnternehmerIn gegenübertritt und etwa eigene, nämlich andere Interessen haben könnte). Die Entsolidarisierung wird vielmehr zum gesamtsozialen Modellfall. So wie die UnternehmerInnen auf dem Schlachtfeld des Marktes gegeneinander agieren, sollen nun die postmodernen ArbeiterInnen ebenso prinzipiell gegeneinander und nur optional, in aus jeweiligen und aktuellen ökonomischen Interesselagen zu knüpfenden Allianzen miteinander agieren. Die von der ArbeiterInnenschaft gegen die Individualitätsidee des Liberalismus in Anschlag gebrachte Solidaritätsidee (Internationalismus der frühen ArbeiterInnenbewegung) wird aufgegeben bzw. durch Kollektivsurrogate (nationale und ethnische Interessen) aufgefangen.

Die Auflösung all dieser Grenzen, immer in den Grenzen des unternehmerischen Interesses, ist eine der perfidesten Strategien, mit denen sich die New Economy und der Neoliberalismus - wie gesagt beides eher unspezifische Begriffe - zu einem totalitären Beherrschungsszenario ausgewachsen haben. Ihr lässt sich nichts mehr entgegensetzen. Außer ihrer Analyse, die hier aber, wie gesagt, nicht gewünscht ist. Und vielleicht auch nicht mal die, weil die westlichen Gesellschaften ja gelernt haben, dass es nicht auf Analyse als einem Wissen ankommt, sondern auf Produktionsverhältnisse, die egal, ob sie durchschaut werden oder nicht, ausschlaggebend sind, weil sich nur an ihnen und durch sie hindurch Modelle von Widerstand gewinnen lassen (s.o.).

Und je mehr wir uns faktisch gezwungen sehen, uns nicht mehr als ArbeiterInnen zu verstehen, desto weniger nützt es uns, das insgeheim doch zu tun, weil wir eben ArbeiterInnen sind, deren Arbeit darin besteht, keine mehr sein zu dürfen, sondern eine unternehmerische Tätigkeit. Eine Investition in eine Zukunft ohne Zukunft. Seien wir aber vielleicht doch so nostalgisch, uns ein bisschen als ArbeiterInnen zu verstehen, zum Beispiel, indem wir den Produktionsverhältnissen wenigstens gewisse Formen des Nichteinverstandenseins entgegensetzen, z.B. wenigstens kenntlich machen, wo wir uns ihnen beugen, indem wir z.B., weil wir ja Geld verdienen müssen - ich z.B. gerade 300 Euro, mit denen ich dann meine Familie ernähren werde - darauf hinweisen, was die Produktionsverhältnisse von uns wollen. Flockig sein z.B. Anstatt einfach nur flockig zu sein.

(Dieser Text ist für die Augabe #3 des Silverserver-Magazins in Wien geschrieben worden. Er wurde dort auch in einer abgewandelten und gekürzten Form veröffentlicht.)