Notizen eines King Crimson-Ironikers

Von Frank Apunkt Schneider
 
 
Lebendiges Brauchtum

Ich möchte Sie heute in die schöne Stadt Bad Geworfensein am Zweck entführen, einem idyllischen Nebenflüßchen des Hegels, welcher wiederum übrigens interessanterweise sowohl links als auch rechts zur Donau hin fließt. Unter Fachleuten gilt dieses malerische Städtchen, wenn auch nicht unumstritten, als das Tor zum Norddöblinschen Hochamt, welches eine der reichsten und schönsten und wirkungsvollsten Kleingegenden des unteren Mitteldeutschlands ist.

Eingefaßt ist dieses erstmals 1411 urkundlich erwähnte Juwel des Bibelgürtler Riedes von den üppig sich entlang der historischen Staufferstraße dahinschmiegenden Brom-, Stäupe- und Räudefeldern, deren golden einherwogendes Meer von einzelnen Vorkommen der neunblättrigen Millenniumsazalee, die auch das Stadtwappen führt, stimmungsvoll durchbrochen wird. 

Eine prosperierende Klemmleuchten-Industrie sorgt für volle Stadtkassen, und wenn man die Bad Geworfenseiner nicht in ihr reges Tagwerk vertieft antrifft, so mag man sie vielleicht über eine wohlschmeckende Schwindsuchtdunse gebeugt finden, jene ortsüblichen, mit stumpf-angebratenen Speckwürfeln aufgepeppten Schmalzgebäckquader. 

Der oder die Kulturgeschichtlich-Interessierte, je nachdem, mag vielleicht noch einen Blick auf die weltberühmte Stuckrad-Barre der Adornitenabtei Sankt Theostilb oder auf den im Allzwecksaal ausgestellten Konstantinwecker werfen, jene erste Uhr mit einstellbarem Läutwerk, die Meister Konstantin bereits 1567 für den König von Schweden verfertigt hatte, bevor er oder sie, also der oder die Kulturgeschichtlich-Interessierte, sich auf einen Ginster oder Zwickel in eine jener sternförmig um den Rathausplatz gelagerten Gaststuben niederläßt. Wer im dortigen Postgasthof zum Siebentägigen Krieg die Speisekarte aufmerksam studiert, wird nicht nur bemerken, daß man hier besonders preisgünstig ißt, nein, er wird auch darüber belehrt werden, daß selbiger traditionsreicher Gastronomiebetrieb auch die Geburtsstätte zahlloser Aphorismen bedeutender durchreisender Dichter- und DenkerInnen des 18. Und 19. Jahrhunderts ist. Vielleicht sitzt man am selben roh-behauenen Eichentisch, an dem einst Vauvenargues sein unsterbliches "Wer sagt, daß er keine Vernunft besäße, der allein nennt sie sein eigen." äußerte oder Jean Paul sprach: "Nur der Tugendhafte kennt das Laster!". Vielleicht mag auf der selben roh-behauenen Eichenbank Oscar Wilde ausgerufen haben: "Die Schönheit des Augenblicks ist das Ewige." Vielleicht erholt man sich auch im selben Bette von den Strapazen des Tages, aus dem sich seinerzeit La Rochefoucalt nochmals erhoben hatte, um die Worte "Ein Moment der Bitterkeit wiegt schwerer als ein Jahrhundert der Zuversicht." in jenes Ideen-Büchlein zu werfen, das er, so sagt man jedenfalls, stets mit sich führte. Und es ist keineswegs unmöglich, daß man selbst gerade sinnierend auf jener Toilette sitzt, auf der einer Marie von Ebner-Eschenbach der unvergessene Satz entfuhr: "Die Schönheit ist sich selbst genug.". 

Die moderne Anlage, da hinten, links, ist das akustik-technische Forschungsseminar Bad Geworfensein am Zweck; wie man unter vorgehaltener Hand zu wissen meint, soll dort bereits 1993 ein spektakulärer Versuch mit 19-Ton-Musik gelungen sein. Übrigens hat man auch Bundesliga-technisch einiges zu bieten. So sind die Backgammon-Senioren der Damen des Vereins Plurivozität Bad Geworfensein am Zweck 04 seit Jahren im Abstiegskampf ungeschlagen und die Recken vom Rhönradclub Bijektiv Bad Geworfensein am Zweck 1933 konnten mit einem überraschenden 0:0 gegen die Rhönradfreunde Vgg. Bad Hanfhosen sogar erstmals die Tabellenführung übernehmen. 

Wenn man vom Oswald Spengler, dem siebzehnthöchsten Solofelsen der Region, ins Land hinaus schaut, blickt man auf jene ausgedehnten Waldlandschaften, die in der Pilzexpertenszene unter vier Augen ob ihres Artenreichtums als letztes Reservoir einer ursprünglichen, ausgedehnten oberdeutschen Pilzbestandskultur gehandelt werden. Sonst schon längst selbst in den Erzählungen der Alten ausgestorbene Sorten wie der Schwule Talkmaster, der Fade Würzling, die Extreme Lesbe aus der Gattung der wulstlosen Knäulchimären, der in der Klasse der ausreichenden Speisepilze unübertroffene Kleine Feigling, der Rücksichtslose Kolonialist, der Alberne Referendar, den Kenner zu Kürbisgratin schätzen, der vom extrem unbekömmlichen Bedeutenden Jazzer nur schwer zu scheidende Unbedeutende Jazzer, der Mahnende Warner, der Schleimscheißende Pseudointeressantling, der Höfische Günstling, der Furchtbare Lüstling, der Aufgeklärte Wüstling, der Proppsige Schänder, der giftige Wixende Firmling, der Unbequeme Sänger; man könnte noch stundenlang weitere wohlklingende Namen aufzählen. Doch gilt es, etwas zu berichten.

In jenem nahen Waldstück da links nämlich, das gleich hinter der wild-romantischen Staustufe der mittlerweile begradigten Rentnerschwemme jäh hervorspringt, leben Nina und Mike, die beiden kaputten, achtlos in den Wald geworfenen Kastenmöbel-Elemente. Moose, Flechten, Farne und Rhizome wachsen schon auf ihnen und manchmal gar verfängt sich die Spore eines Hallimasches, eines Leberpilzes oder eines Stockschwammes in ihren Fugen und das kribbelt und prickelt so herrlich, daß sie gar kein Wort dafür kennen. Froh sind sie, den muffigen Mehrzimmerwohnungen muffiger fünfköpfiger Familien aus den muffigen Siebziger Jahren entkommen zu sein und hier im Wald als Müll ein freies und selbstbestimmtes Dasein führen zu können. Nur müssen sie sich manchmal vor christlichen Jugendgruppen, Pfadfindern und Kindern, die Umweltralleys machen, in Acht nehmen. Jedes Mal, wenn das alte Lied erklingt: "Wir machen ‘ne Umweltralley/und alle machen mit/Stephan, Kathrin, Frank und Elli,/sogar der kleine Pit", wühlen sich Nina und Mike tief ins Laub ein, hoffen, daß die Moose, Farne, Flechten und Rhizome, die Stockschwämme, Leberpilze und Hallimasche sie schon vom übrigen Wald ununterscheidbar [dieses Wort bitte mit Textmarker anstreichen] gemacht haben. 

Sie hören die Schreckensschreie der eingesammelten Coladosen und Capri-Sonne-Packungen und bibbern und zittern. Denn sie wollen nicht auf die Mülldeponie; Ariadne, der weise alte Duschvorhang, weiß davon Grauenerregendes zu berichten und man munkelt gar, daß der Müll dort verbrannt würde, doch genaues wußte niemand, denn keine und keiner war je von dort wiedergekehrt.

Mit dem anderen Müll verstehen sie sich prächtig. Da sind: Moritz Arndt, die Altöldose, die mit gelegentlichen Freestyle-Hip Hop-Einlagen für gute Laune sorgt, Moritz von Schwind, das Pornoheft von 1973, das viel schon von der Welt gesehen hat, aber manchmal bei Föhnwetter über seine verklebten Seiten klagt, Karl Philipp Moritz, die Leiche des unbekannten Ungarn, der wenn in den Sommernächten die Grillen knarren und der Mond sein mildes Licht über die Wipfel streut, von Zuhause so schön erzählt, daß einem Tränen der Schwermut und der Dankbarkeit in die Augen schießen, schließlich Moritz-Corinna Mae, die blinde geborstene Bildröhre, deren Gesang von jener zaghaften Schönheit ist, die einer Seele nur entspringen kann, deren Reinheit noch nicht vom Licht der Dinge beschmutzt wurde.

So sitzen sie da, dieweil die Strahlen der vom Winterschlaf erholten Frühlingssonne durch das Blattwerk tollen, und um sie her sprießt und blüht es, und frisches Grün bricht aus noch karger Erde, und sie spielen mit den lose umherflatternden Seiten von Barnabas Schwellenangst, dem alten, zerfledderten Harenberg’s Weltreport "Länder-Quartett!":

"Jahresniederschlagsmenge 108!"

"Sticht!"

So leben sie allso fröhlich und ereignislos dahin und jeder Tag ist erfüllt von Klang und Spiel und Zuversicht und sie wären vielleicht auf eine abenteuerlose Ewigkeit die unschuldigen Sympathieträger geblieben, denen man nichts anderes abbedingen mag, als ein wenig Niedlichkeit in diese grame Welt zu bringen, wenn nicht, ja wenn nicht...
 
 

Denn es begab sich aber zu dieser Zeit, daß der populäre Unterhaltungsminister Dr. Jürgen-Mariä Lichtmeß in die kleine Stadt, an deren Rand der kleine Wald lag, indem unsere Freunde hausten, kam. Es stand das alljährliche traditionelle Dieter-Zurweme-Gedenksuchen ins Haus und die Unabhängige Wählergemeinschaft Bad Geworfensein am Zweck hatte den beliebten Politiker eingeladen, den Feierlichkeiten beizuwohnen. Es war dies nämlich einer der kulturgeschichtlich-interessantesten Bräuche jener Tage: Wie jedes Jahr trafen sich die Gemeinde-Jungfrauen im Gemeindezentrum, um dort im Hauswirtschaftsraum aus echtem Menschenhaar, eingeweichten Semmeln vom Vortag, alten Heavy Metal-Alben ihrer nunmher erwachsen gewordenen Brüder, Holzdeckenverschnitt, alten Postertapeten und was dergleichen mehr ist, eine Dieter-Zurweme-Puppe in Lebensgröße zu bauen.

Man sagt, daß jeder Dieter Zurweme-Puppe, da wo des Menschen Herz sitzt, ein Stück echtes Mauerwerk aus dem echten Turm zu Babel eingenäht ist. Ja, dieses erst sei das "Herzstück" der Puppe. Doch Spötter meinen, so viele historische Babylonische Türme könne es gar nicht gegeben haben, wie alljährlich in den Städten des Landes Dieter Zurweme-Puppen hergestellt würden, vielmehr handle es sich gar nicht um Steine aus dem historischen Babylonischen Turm, sondern um Mauerstücke bloß der historischen Berliner Mauer. Wir wollen dies dahingestellt sein lassen und uns den weiteren Vorgängen widmen. Wie jedes Jahr nämlich sehen wir jetzt die Ortsjugendlichen sich mit ihren Mofas an der Zentraltelephonzelle gleich bei den Aufstellungs- und Mitteilungskästchen der zahlreichen Vereine zusammenrotten und da kommt auch schon Metzgermeister Deutschschäfer mit seinem Plastiksack voll Wurstzipfeln. Was hat er damit vor? Er verteilt sie an die Ortsjugendlichen, die unter furiosem Geknatter und Gestotter und dem Gewinke der Ex-Dorfjungfrauen der Vorjahre sogleich ausschwärmen, um die Wurstzipfel auf den umliegenden Feldern zu verstecken. So wird es jedes Jahr gemacht und bei der atemlosen Jagd auf die Dieter-Zurweme-Puppe, an der alle männlichen Einwohner des Städtchens teilnehmen, hören wir immer wieder beim Durchkämmen der Felder (der dabei entstehende Flurschaden wird mittels eines sogenannten, vorher von jeder Haushaltung zu entrichtenden Dieter-Zurweme-Pfennigs beglichen, so daß auch die Landwirte mit viel Eifer und mit ehrlicher Sympathie dabei sind) einen Ausruf des Inhaltes, daß jemand einen Wurstzipfel gefunden habe. Sogleich eilen da alle in der Nähe befindlichen Dieter-Zurweme-Jäger herbei und sagen selbigen kritisch begutachtend: "Ja, das ist ein Wurstzipfel! Auf Freunde, daß Schwein kann weit nicht sein!". Der Finder hat sodann zu erwidern: "Wir kriegen ihn, und wenn’s mit dem Teufel zugeht!". Und weiter rast johlend die fröhliche Jagd.

Nun haben die Dorfjugendlichen die Wurstzipfel ausgelegt und knatternd und stotternd und unter dem Gewinke der Ex-Dorfjungfrauen der Vorjahre fahren sie wieder in die mit Dieter-Zurweme-Gedenk-Suchens-Fähnchen festlich geschmückte Stadt ein, denn bald schon soll das eigentliche Zeremoniell beginnen. 

Auf dem Marktplatz, auf dem es sonst dank des einzigen ganzjährigen Osterbrunnens diesseits der Dorp-Dorf-Linie von ratlosen Ethnologen nur so wimmelt, wird letzte Hand an den aus der Rüdiger-Nehberg-Dreifachturnhalle von zahllosen Freiwilligen herübergetragenen Bühnenaufbau gelegt. Schon sieht man den Herrn Minister mit OB Bapist Konradsreuther und MB Pankraz Kreuzgang ins Gespräch vertieft einherschreiten; es wird gleich beginnen. 

Dann ist alles bereit; warme Worte des pensionierten Lehrers und passionierten Heimatkundlers, eine singende Wirtin verspritzt ihr Selbstkomponiertes; und da ist er auch schon, der Unterhaltungsminister, links und rechts von ihm ein schwarzer und weißer Polizist, eine Geste nur bringt die ausgelassene Menge zum Verstummen und schon rollen seine Worte über den im Festtagskleid erstrahlenden Platz: 

"Mit feierlichen Worten möchte ich das diesjährige, neunte Dieter-Zurweme-Gedenksuchen eröffnen. Eine Gesellschaft ist nur so gut wie ihre Öffentlichkeit. Die Verpflichtung zur Sichtbarkeit ist die Verantwortung für die Struktur einer Öffentlichkeit, die sich ihrer selbst inne wird. Immer wieder werde ich von jungen Menschen aus den ganz neuen, aus den nicht mehr so ganz neuen und aus den schon etwas älteren neuen Ländern gefragt, ob die Chancen des Wachstums in seinen Grenzen oder die Grenzen des Wachstums in seinen Chancen liegen. Mehr Zukunft probieren, heißt für mich auch: Wer Sollen darf, muß auch Wollen können, meine Damen und Herren. Wir wünschen unseren jungen Mitbürgern viel Erfolg auch späterhin in ihrem identitätsstiftenden Bereich und in ihrer kollektiven Tätigkeit!"

Lang anhaltender Beifall; dann kann die Dieter-Zurweme-Puppen-Weihe beginnen. Auf einem roh behauenen Eichtisch liegt sie, man sagt, es sei jener, an dem sich Johann Jakob Bodmer vom Ästhetiker-Erfolgsduo Bodmer&Breitinger einmal bei einem Postpferdewechsel notiert hatte: "Dessen man sich bewußt ist, das darf man nicht verleumden!". Noch ganz leblos, Puppe nur, doch schon nahen die Kommunaljungfrauen und bestreichen sie mit ihrem in kleinen Töpfchen gesammelten Monatsblut. Hernach werden sie im traditionellen Entjungferungsraum des völkerkundlichen Museums von den Ortsjugendlichen entjungfert werden, denn jedes Jahr soll die Puppenherstellung von einer neue Kommunaljungfrauen-Generation ausgeführt werden.

Seltsam, aber so ist es Brauch! Da aber tritt der Unterhaltungsminister schon hinzu und hebt einen kleinen Zettel ins gleißende Beben der Scheinwerfer. Rasende Menge keucht. Der Minister entrollt den Zettel und liest den darauf geschriebenen Satz vor: "Deifica virtu tibi dico: surge signum!" 

Und schon kann der aufmerksame Betrachter ein erstes Gliederzucken des Homunkulus bemerken. Keuchende Menge rast. Sodann rollt er ihn wieder zusammen, öffnet der Puppe den Mund und legt ihn hinein. Da fährt das Leben in die leere Hülle und sie löst sich aus ihrer fühllosen Dingstarre, erwacht, ihre leeren Augen beginnen sich mit seltsamer Glut zu füllen und schon erhebt sie sich vom Tisch, da prasseln schon die Stöcke auf sie nieder, die sie in den Wald treiben. Und mechanisch beginnt die Puppe zu rennen und zu rennen. Die Kinder beginnen nun laut und langsam bis tausend zu zählen. Als sie geendet haben, setzt sich die Menge in Bewegung; wer die Puppe fängt und zum schon aufgeschichteten Reisighaufen führt, dort man sie feierlich verbrennen will, der soll der Sieger sein. 


Noch begrifflos kreischt der leere Schädel Angst, die von hölzerner Einfassung wiederrollt. Zweige peitschen grell, Laub raschelt krakeelend, Steine grinsen Verrat. Fremde Beine rennen wie aufgezogen, Schwaden von dumpfem Fühlen gellen den Leib, der schon spürt, daß er ist, doch nicht was. Der klamme Griff des Namenlosen quetscht geschwitzten Leim aus allen Fugen, nur Jagen, nur Jagen, ein Atem geht wie ein Geröll, Fremdhaar klebt Stirn und Aug. Horizont ballt Gesang um Hörnerjaulen: "Brüder Zurweme zur Strecke!" singt’s; wie von tausend Kehlen. Ein Schmerz in Ohren von Pappmaché wird Ahnen, da werden schneller die Beine, da peitschen schärfer die Zweige, da taumeln und torkeln, da wanken und ragen, da dolcht Licht, da ist Farbe, da ist etwas, da will etwas, da schreit etwas, da springt etwas, da ist etwas, das nicht das erste etwas ist, da ist ein Wort ohne Klang, ein Wort, das klanglos dort liegt, wo auch schon ein Schemen von zweitem Wort funkelt, da ist ein Wort, das dem anderen Wort gegenübertritt und zerfällt, staubt, zurücksinkt ins Nichts, wieder da ist und wieder verschwimmt, da ist das erste Wort, das jetzt klarer hervortritt, das mit Klang sich vollsaugt, das aus dem Dunkel springt, das man packen muß, das man greifen kann, das ich packe, das ich greife, es ist in mir und es ist ich, dieses Wort, es schmeckt salzig, es schmeckt nach Schwefel, es wälzt sich süß und wälzt sich bitter im Mund herum, es kann vom Mund bewegt werden, es wird größer, immer größer, es will heraus, aber es muß doch drinnen bleiben, vielleicht daß es davonfliegt, wenn man es losläßt, bleib da, Wort, geh nicht weg, Wort, es dröhnt im Mund, es pulsiert im Mund, es stößt einem den Mund ganz blutig, es wird zu groß für meinen Mund, es muß raus aus meinem Mund, es reißt mir den Atem weg, es kann ja nicht drinnen bleiben, ich muß es abwerfen, ich ersticke, ich muß den Mund aufstoßen, denn das Wort bringt mich ja um, es preßt mir den Atem zu Schorf, es schnürt mir die Luft ab und ich muß doch rennen, rennen, rennen, rennen. Es muß raus, es sofort, muß ja raus, es, jetzt gleich, es muß doch etwas, das Wort: "Krrrrrrrrrrrch! Ihhhhhh! Ikrrrrrrrrrrrchhh! ................................. ............................................. .............................................. Ich! Ich?"

Die Puppe will stehen bleiben, sie will das Wort betrachten, sie will nicht mehr rennen: Hör auf zu rennen, Ich! Da hört Ich auf zu rennen, da bleibt es stehen, da hört die Welt auf zu wanken, da steht die Welt plötzlich, da ist nicht mehr Schwimmen, sondern da steht plötzlich Stille, da ist Luft und ein Wort. Es ist weggestoßen, doch es ist ja noch da: "Ich!". Da beginnt plötzlich der Schädel, der schiefe, der aus Unrat zusammengeklebte Schädel, der ins Licht geworfene Schädel zu spucken und zu stottern, zu stoßen und zu rattern. Da kommt ein Wort um’s andere hervorgestürzt und schwimmt davon, doch schon scheint das eine Wort zum anderen zu passen, schon fühlen sich die Wörter warm an und weich, schon umspielen sie freundlich den tumben Körper, schon schmiegen sie sich an und umhalsen und umstehen und umwinden. Wen? Den Körper! Den Körper, der ja da ist, der ja ein Etwas ist. Der ja nicht Nichts ist. Der sich ja berühren kann. Der ja Finger hat, den Kopf entlang zu fahren. Das ist ja der Kopf. Da springt etwas hervor! Da sinkt etwas ein! Da steht die Dieter Zurweme-Puppe und spürt sich und stellt sich fest und formuliert sich, ihr Kopf zuckt unter den Stößen der Wörter, die ihm entfahren, kaum ist eines heraus, ballt schon sich das nächste, und dann plötzlich dröhnt: "Wer bist Du?" – "Ich ... bin ... >>Ich!<<"; "Was bist Du?" – "Ich ... bin ... die...Puppe!"; "Wie bist Du?" – "Ich ... bin ... aus ... Holz ... und ... Leim ... und ... Haaren ... und ... Stoff!"; "Warum bist Du?" – "Ich ... bin ... um getötet zu werden, getötet zu werden, getötet zu werden!"

Da rennt die Puppe, und da ist wieder der Gesang, fern noch, doch näher und immer näher kommend: "Brüder, Zurweme zur Strecke!", er schneidet die Welt kaputt und macht die Puppe rennen und wie sie rennt und da sie rennt und indem sie rennt, ist alles da und wird immer mehr und wird immer dichter um sie und wird immer klarer, bis sie weiß und rennt, weil sie weiß. Denn nun ist der Zauber in ihr ganz geworden.

Und da schlägt sie lang hin und ihr Bein schmerzt und sie will aufstehen, doch sie kann ja nicht aufstehen, denn ihr Bein schmerzt und da liegt etwas, es ist ganz viereckig, und weil das da liegt, ist die Puppe gestolpert und weil die Puppe gestolpert ist, schmerzt ihr das Bein, und weil ihr das Bein schmerzt, kann sie nicht mehr aufstehen, und weil sie nicht mehr aufstehen kann, will sie nicht mehr aufstehen. Da sagt das viereckige Ding: "Aua, kannst Du nicht aufpassen!" Und die Puppe versteht, das viereckige Ding kann sprechen, wie sie, die Puppe. Aber sie, die Puppe, hat keine Angst vor ihm, dem Ding, denn es sieht nicht aus wie jene, die sie ja jagen, sondern es ist wie sie, die Puppe, aus Holz und aus Leim gemacht: "Wer bist Du?" fragt sie, die Puppe. "Ich bin Mike, das Kastenmöbel-Element!", sagt Mike, das Kastenmöbel-Element "Und ich lebe hier! Da sind meine Freunde: Nina, Barnabas Schwellenangst, Moritz Arndt, Moritz von Schwind, Karl-Philipp Moritz, Moritz-Corinna-Mae! Und du?!"

"Ich bin die Puppe! Ich war plötzlich da und rannte und wie ich rannte, stellte ich fest, daß ich da bin, da merkte ich, daß ich renne, weil ich da bin und renne, weil ich gejagt werde, von welchen die aussehen wie ich und doch anders!"

"Die Menschen!"; sagt da Mike, das Kastenmöbel-Element. "Wir kennen sie, die sind böse und man muß sich vor ihnen verstecken!" 

"Verstecken?"

"Ja, verstecken!"

Und da die arme Dieter-Zurweme-Puppe Mike, das Kastenmöbel-Element, und seine Freunde dauerte, zeigten sie ihm, wie man sich mithilfe von Moosen und Farnen und Flechten und Rhizomen, mit Hallimasch, Leberpilz und Stockschwamm unsichtbar machen konnte. Und da nicht genug von alledem um sie her wuchs, um nur gleich die große, große Puppe vor den Augen der Menschen zu verbergen, gaben sie von ihrer eigenen Tarnung, jeder ein bißchen und soviel er geben konnte und schließlich war die Dieter Zurweme-Puppe dem Waldboden gleich gemacht, so sehr, daß ihre nun schon heransprengenden Verfolger einfach über sie hinwegsprangen und keiner etwas merkte. Und so begann eine lange Freundschaft zwischen der Puppe und dem übrigen Müll und der übrige Müll erklärte ihr alles von der Welt, was es von der Welt, in die sie ja eben erst gestoßen worden war, zu erklären gab, denn der freilebende Müll ist insgesamt sehr weise und kennt alle Geheimnisse dieser Erde, nicht wie die blöden Menschen, die gar nichts wissen und sich bloß aufspielen mit ihren doofen Händen und ihren beknackten Mündern und ihren bescheuerten und obendrein häßlichen Köpfen. Ihr einziges Verdienst ist nämlich, den Müll hervorgebracht zu haben, aber das war’s dann auch schon. Genaugenommen hat sie die große Müllhalde oben im Himmel nur zu diesem einen Zweck erschaffen.

Jedenfalls staunte da unsere Puppe, was der Müll alles wußte und sie staunte und lernte und lernte und staunte, bis sie genauso klug und weise war, wie der übrige Müll. Und wenn sie nicht von besagten christlichen Jugendgruppen, Pfadfindern oder Kindern, die "Umweltralley" machten, eingesammelt worden sind, liegen sie wohl noch heute im Wald herum und freuen sich am bloßen Dasein.

Nicht so die Menschen; als die am Abend nämlich in ihre Stadt zurückkamen und keiner aber brachte die Puppe herbei, und keiner wußte anzugeben, wo diese abgeblieben war und als sie am nächsten und am übernächsten Tag wieder mit leeren Händen nachhause kamen, da entbrannte großer Jammer und aus dem großen Jammer wurde ein großes Geschrei und aus dem großen Geschrei wurde ein großer Zorn und aus dem großen Zorn erwuchs Mord und Totschlag unter den Menschen, drei Tage und drei Nächte lang brannte die kleine Stadt an allen Ecken und Enden und die Männer fielen über ihre Frauen her und die Frauen über ihre Kinder und die Kinder vergifteten ihre Großväter und die Großväter spannten die Großmütter auf die Kreissägen und so ging es hin, bis knöchelhoch sich schon das Blut durch die Straßen wälzte und alles in Schutt und Asche lag. Da hielten die, die noch lebten, inne, besannen sich und der verhängnisvolle Festtag wurde aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen und dem pensionierten Lehrer und passionierten Heimatkundler wurden vorsorglich beide Arme abgeschlagen.

Dies war dann auch die Geburtsstunde des traditionellen Bad Geworfenseinser Illegale-Einwanderer-Schießens. Mit vom Einzelhandel bereitgestellten Geldern werden in sogenannten "Schwellenländern" illegale Einwanderer angekauft, im Wald freigelassen, wo sie weidgerecht erlegt werden müssen. Der dabei zu verdienende Illegale-Einwanderer-Schützenkönig-Zinnteller wurde übrigens einer der begehrtesten Wanderpokale Deutschlands, denn er wird von niemand geringerem als dem populären Innenminister Otto Schilly überreicht.